Lieferung bald günstiger als Restaurantbesuch: Berlins Wirte gegen „Ungerechtigkeitssteuer“

Gastronomen finden die Erhöhung der Mehrwertsteuer unfair, denn Gaststätten müssen mehr abführen als Lieferdienste.

Auf Berliner Weihnachtsmärkten kostet der Glühwein vier bis fünf Euro, eine lange Bratwurst sieben Euro. Die Kundschaft schüttelt verärgert den Kopf. Denn auch der Döner am Imbiss kostet nun sieben Euro. Und in den Gaststätten wird die Gänsekeule auch mal für 36 Euro angeboten. Ist das Wucher? Haben es die Wirte mit den Preisen nach zwei Jahren Zwangsschließungen in der Pandemie übertrieben? Thomas Lengfelder, der Chef des Berliner Hotel- und Gastronomieverbandes e.V., sagt, dass das richtig dicke Ende erst noch kommt. Mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer im Januar – und massiven Folgen für Berlin.

Herr Lengfelder, Sie sind derzeit nicht gut zu sprechen auf Christian Lindner, den Bundesfinanzminister von der FDP, also jener Partei, der lange eine Nähe zu Ihrer Branche nachgesagt wurde. Warum sind die Wirte nun wütend auf ihn?
Wir setzen uns seit 40 Jahren für eine faire Besteuerung in unserer Branche ein: All jene, die Speisen anbieten – egal ob eine Currywurst am Stand oder eine Pizza beim Lieferdienst oder ein gutes Essen im Restaurant –, sollen die gleichen Steuern abführen. Wir sind für Steuerfairness. Und wir sind gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer von sieben auf 19 Prozent. Dazu haben wir ewige Debatten auf allen Arbeitsebenen geführt, mit dem Senat in Berlin und der Bundesregierung. Wir haben auch mit Herrn Lindner geredet, der versprochen hat: Mit uns in der Regierung gibt es keine Steuererhöhungen. Wir hatten lange und schwierige Diskussionen mit den Grünen. Dann hat der Kanzler versprochen: Die Ampel wird die Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Mindestens ein Jahr lang.

War Ihnen das nicht genug?
Wir hätten die sieben Prozent gern dauerhaft gehabt. Aber alle Zusagen waren Makulatur, als das Verfassungsgericht sein 60-Milliarden-Urteil fällte. Was uns wirklich erbost und enttäuscht, ist, dass zuallererst die Zusagen an uns gekippt wurden und dass ab Januar nun doch 19 Prozent fällig sind. Und das mit Christian Lindner, der keine Steuern erhöhen will.

Was bedeutet das für die Wirte?
Wenn ein Wirt ein Schnitzel derzeit für 30 Euro verkauft, führt er 1,96 Euro Mehrwertsteuer ab, ab Januar sind es 4,79 Euro. Das ist schon massiv. Wir müssen die Steuererhöhung an unsere Kunden weitergeben. Alle im Land haben nach der Pandemie eine Wahnsinnsinflation, die Preise für Energie und Personal und Mieten sind extrem gestiegen. Unsere bisherigen Preissteigerungen reichen nicht, um die Steuererhöhung abzufangen. Das geht alles zulasten der Kundschaft. Die zahlt die Erhöhung. Bei uns bleibt von dem mehr eingenommenen Geld kein einziger Cent in der Kasse. Bei uns geht das Geld zwar rein, aber wir geben es vollständig an das Finanzamt weiter.

Aber der Vorwurf lautet dann: Die Wirte können nicht genug bekommen, oder?
Genau, der Staat erhöht unsere Steuern, aber er bekommt den Unmut dafür nicht ab, sondern wir. Und die Erhöhung fördert auch wieder die Inflation, weil wir unsere Preise steigern müssen.

Ist es richtig, dass Sie die Steuererhöhung auch als eine Art Ungerechtigkeitssteuer ansehen?
Sie ist äußerst ungerecht. Denn unsere Branche wird höchst ungleich behandelt. Stellen Sie sich vor, Sie kaufen eine Currywurst an einem Stand am Wittenbergplatz: Wenn Sie die im Stehen essen, sind sieben Prozent Mehrwertsteuer fällig. Stellt der Imbissbetreiber eine Bank auf und Sie setzen sich, sind es 19 Prozent – genau wie im Restaurant nebenan.

Ist das immer so?
Ja. Wenn Sie bei McDonald’s oder Burger King etwas bestellen, werden Sie gefragt: „Zum Mitnehmen oder zum Verzehr vor Ort?“ Die fragen, weil 19 Prozent fällig sind, wenn Sie sich dort hinsetzen, aber nur sieben Prozent, wenn Sie den Burger mitnehmen.

Gilt das auch bei richtigen Restaurants?
Ja, wenn Sie die Pizza beim Italiener essen, zahlen Sie 19 Prozent, nehmen Sie das Essen im Pappkarton mit, sind es sieben Prozent. Die Krönung sind die Lieferdienste.

Wieso?
Lieferdienste wie Wolt oder Lieferando haben keine Restaurants, die sind quasi nur Plattformen, über die die Kundschaft das Essen aus bestimmten Restaurants bestellt, das dann von Fahrdiensten an die Wohnungstür gebracht wird. Für dieses Essen müssen auch keine 19 Prozent bezahlt werden. Und die erzeugen auch noch viel unnötigen Verpackungsmüll. Von Umweltbewusstsein ist da keine Rede.

Herr Lindner subventioniert also quasi die Lieferdienste?
Ja, genau. Ein Wirt braucht im Restaurant viel Platz für die Tische und zahlt viel Geld für Miete und fürs Personal, das dort bedient. Nun soll er mehr Steuern zahlen. Wenn es ihm nur ums Geld geht, sucht er sich einen kleineren Laden ohne Tische und spart bei der Miete und beim Personal. Er hat nur noch einen Koch und lässt alles über Wolt & Co. ausliefern.

Wie viele Betriebe wurden nach der Pandemie geschlossen?
Unsere aktuellen Umfragen zeigen: Von den 220.000 Betrieben bundesweit mussten 36.000 geschlossen werden. Und nun fürchten wir, dass weitere 15.000 dazukommen.

Was fordern Sie?
Sieben Prozent Mehrwertsteuer für alle, die Mahlzeiten vor Ort zum Verzehr anbieten. Und alle müssen gleich behandelt werden. Es kann doch nicht sein, dass Lieferdienste und Imbisse bevorteilt werden, aber Restaurants mehr zahlen müssen, genau wie jene, die Essen in Krankenhäusern anbieten, in Altenheimen, in Kitas und Schulen.

Eine Umfrage in meinem Umfeld zeigt, dass die Hälfte meiner Freunde nur noch halb so oft ins Restaurant geht. Die Preissteigerungen dieses Jahres sind vielen zu viel. Hat es Ihre Branche nach der Pandemie nicht doch übertrieben?

Moment, ich schaue auf die Daten des Statistischen Bundesamtes. Von Januar 2021 bis Oktober 2023 stiegen die Preise bei Nahrungsmitteln um 29,4 Prozent, bei Strom und Gas um 53 Prozent, die Personalkosten um 20 Prozent. In Berlin sind durch die Inflation auch die Mieten für uns um bis zu zwölf Prozent in einem Jahr gestiegen. Das wäre sonst vielleicht in fünf Jahren der Fall. Trotzdem haben wir nicht übertrieben: Laut offizieller Statistik ist der Verzehr von Hauptspeisen nur um 20,3 Prozent gestiegen.

Gab es schon mal solche Steigerungen?
Ich bin seit 1976 in der Branche, habe lange Hotels geleitet. So etwas habe ich noch nie erlebt.

Wie viele Gastrobetriebe gibt es in Berlin?
Etwa 25.000. Wir haben 85.000 sozialversicherungspflichtige und festangestellte Mitarbeiter, dazu kommen Aushilfen. Von unserer Branche leben 250.000 Leute, von der Reinigungskraft über Lieferanten bis zu Sicherheitsleuten. Jedes Jahr machen in Berlin 2500 Gastrobetriebe dicht, es werden aber meist 2500 neue eröffnet. Das liegt daran, dass sich die Branche in Berlin ausprobiert. Wir hoffen, dass es so bleibt.

Das klingt doch hoffnungsvoll …
Ja, für uns, aber viel gravierender ist es auf dem Land, etwa nebenan in Brandenburg. Und sogar in Bayern gibt es nun Orte ohne Gasthaus. Doch auf dem Land ist das Gasthaus oft der einzige Treffpunkt. Wir nennen es das soziale Wohnzimmer. Und wenn das weg ist, kommt es nicht wieder.

Wie wird sich die Branche ab Januar in Berlin verändern?
Die Lieblingskneipe an der Ecke wird wohl nicht verschwinden. Dort gibt es meist kein Essen. Aber durch die höheren Steuern werden klassische Restaurants auch in Berlin weniger Gäste haben. Etliche werden schließen müssen und dann eher durch Fastfood ersetzt, durch Imbisse oder durch Anbieter für Lieferdienste. Auch in Berlin besteht die Gefahr, dass es weniger soziale Wohnzimmer und weniger Vielfalt geben wird. In Berlin-Mitte ist das nicht das Problem, da ist das Angebot groß. Aber in Lankwitz oder Marzahn sieht es anders aus. Wir sind die Gastgeber Berlins – und von der Politik hängt nun ab, welches Bild von dieser Stadt wir künftig zeigen.

Das Gespräch führte Jens Blankennagel.

Quelle: berliner-zeitung.de